Der Geistbarde - Sind Dichter noch Propheten?

Dominik Irtenkauf

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Der Dichter

Der schwarze Mantel will sich dichter falten,
Die freundlichen Gespräche sind verschollen;
Wo allen Wesen tief Gesang entquollen,
Da muß die stumme Einsamkeit nun walten.

Es darf den großen Flug das Herz entfalten,
Und Fantasie nicht mehr der Täuschung zollen.
Was farbig prangt, muß bald ins Dunkel rollen,
Nur unsichtbares Licht kann nie veralten.

Willkommen, heil’ge Nacht, in deinen Schauern!
Es strahlt in dir des Lichtes Licht dem Frommen,
Führt ihn ins große All aus engen Mauern;

Er ist ins Innre der Natur gekommen,
Und kann um ird’schen Glanz nun nicht mehr trauern,
Weil schon die Binde ihn vom Haupt genommen.

 

Friedrich Schlegel, aus: Abendröte.

Darf ich noch die Schrift auf dieses (virtuelle) Papier drücken? Können Dichter in der heutigen Zeit, deren Zeichen erneut auf "prosaischem Anbiedern" stehen, noch von sich Reden machen? Oder sind sie verdammt dazu, dem hungrigen Lesepublikum neue Leichtkost zu servieren? Kurz und bündig: Haben Dichter heutzutage noch den Drang, "ins Innre der Natur" zu kommen nach einer vielleicht endlosen Suche, zumindest das ganze Leben in Anspruch nehmend? Wird ein Dichter, der aus tiefster Brust den Gesang aus Friedrich Schlegels (1772-1829) Zyklus Abendröte anstimmt, heute nicht für einen Nostalgiker, einen Ewiggestrigen gehalten? Gescholten für eine Auffassung von Poesie, die noch ein solides Fundament besitzt... von diesem wird sodann ein großes Gedankengebäude errichtet. Hilft uns nicht die Philosophie bei der Präzisierung einer poetischen Richtlinie? Aber nein! Autorität gehört zu einem Wortschatz, der aus unserem Bewußtsein gestrichen wurde, genauso wie "höhere Grundlagen". Heute sieht man eine bedeutende Abdrift in den Abgrund des Trivialismus, der aber in meiner dichterischen Lebenskunst herzlich (wörtlich genommen!) wenig mit einer Unterscheidung zwischen schulischer und subkultureller Literatur (wie ja u.a. auch in der euch vorliegenden Zeitschrift zu lesen ist) gemein hat. Scheinbar kann aber heute ein Jeder und auch eine Jede Literatur in Publikationen der "Unterwelt" veröffentlichen. Die fehlende Basis einer durchdrungenen und in sich kohärenten Auffassung von Welt, Poesie und Kunst/ Kultur stört dabei herzlich wenig... man lese einfach die zahlreichen Rezensionen zu Ratgebern von Übersee oder sonstwo, anhand derer man im Bruchteil eines "göttlichen Atems" zu sprachlichem Ausdruck gelangt. Man schreibt Geschichten, um einen möglichst feschen Inhalt zu vermitteln, in einer Sprache, die dem Leser möglichst gefällt (optional: zu gefallen hat)... und Hokuspokus fidibus: heraus kommt eine Lektüre, die keine neue Erkenntnis bringt (und nicht mal die der Verwirrung oder der Sinnlosigkeit allen Schreibens und Denkens in menschlicher Sprache)... aber sie gefällt.


Besonders im Bereich der Lyrik ist nun in unserer oberflächlichen, nichtssagenden Konsum-Gesellschaft eine flache Lyrik auf dem Vormarsch, d.h. es werden belanglose Thematiken in eine ebenso vertraute Sprache gepackt. Das Moment der Eigenständigkeit und ein Novum, das aufhorchen läßt, fehlt. Im Schaffen des Dichters kann doch ein größeres Motiv bestehen, eine Vision von einer kommunikativen Kulturgesellschaft, einer neuen Hochkultur, welche sich durch die Kunst der Realität nähert (dieses entlieh ich den Romantikern!). Und dies bereichert das Leben ungemein.


Diese Thematik (Dichter als Prophet) hängt natürlich auch stark mit religiöser Berufung zusammen. Ich führe dabei aber meine eigene Dichtersperson an, um nicht in metaphysischen Ebenen zu verschwinden. Diese Selbstreferenz (meine elektronische Postadresse lautet: geistbarde@t-online.de, die auch schon zu einigen überraschenden Reaktionen geführt hatte) führt den (natur-) religiösen Aspekt von Dichtkunst, auch im topfrisch-duftenden 21. Jahrhundert , an. Was ist aber nun ein Geistbarde? Ich könnte einer alten philosophischen Tradition folgen, und mich durch Dialektik (d.h. durch Abgrenzung zu einem anderen Phänomen) an den Begriff annähern. Ich folge aber in diesem Artikel eher einer kommunikativen Deutung dieses klangvollen Namens (Die Dichtkunst zehrt auch vom Pathos, wenn sie neue Wege begehen möchte!). Ich führe eine Äußerung meinerseits aus einem Gespräch mit Frank Cebulla von der Zeitschrift für Magick · Gnosis · Metaphysik DER GOLEM Nr. 4 (ISSN 1439-0639) an, die Gefahr einkal-kulierend, dies als Selbstbeweihräucherung gelten zu lassen:

F: Glaubst Du, daß es so eine Art natürlicher Verwandtschaft zwischen Kunst und Magie gibt?
A: Ja, davon bin ich felsenfest überzeugt! Ich spüre es ja am eigenen Geist und Leibe! Wie kann ich da noch anderes behaupten? Einige erläuternde Worte: Auch wenn das gegenwartsdeutsche (sic!) Wort 'Kunst' von Handwerk sich ableitet, verbinde ich mit der Kunst eine große Affinität zur Magie. Das Problem, das viele Menschen mit dieser Aussage aber heutzutage haben, ist auch, daß der allgemeine Zeitgeist uns sagen will, Magie sei Täuschung, Scharlatanerie und illusionärer Budenzauber. Das Leuchten in den Augen von kleinen Kindern, wenn sie einer Varieté-Zaubervorstellung folgen, ist wohl kaum in Worte zu kleiden.
Und trotzdem sollte doch der Eigencharakter der Kunst darin bestehen, mit neugierigen Blicken die Welt aufzunehmen, ja förmlich aufzusaugen. Die Kunst besteht darin, mit einem Zauberstab zu rollen, aus dem Vollsten (damit meine ich die Auseinandersetzung mit der Geschichte der Kunst) zu schöpfen, und daraus entsteht eine Welt. Diese Welt aber nimmt Einfluß auf die unsere, "wirkliche" Welt, wenn die Menschen der Magie folgen, dem Zauber der Worte meiner Geschichten.
Noch etwas unpoetischer: Wenn es ein großes Anliegen sowohl der Kunst als auch der Magie ist, vorher unbekannte und mißachtete oder ignorierte Dinge ans Tageslicht zu bringen, aus einer Dunkelheit, die vor unfähigen Angriffen schützt. Tja, dann sind Kunst und Magie eins. ..." (S. 21.)

Ich bin mir der Macht der Worte bewußt, deshalb muß ich jedes einzelne Wort gut bedenken, denn es kann im Verbund mit anderen Worten ungeheure Kräfte entfesseln. Man muß eine gewisse kulturelle Verantwortung tragen als AutorIn. Die deutschen Romantiker versuchten sich an einer neuen Mythologie, einer quasi-religiösen Aufwertung des Dichters als Prophet, der auf den Klang der Natur hört und im harmonischen Austausch mit ihr Wahrheiten hervorbringt (vgl. auch das eingangs zitierte Gedicht von Fr. Schlegel). Heutzutage haben wir offensichtlich den Bezug zu einer größeren Macht verloren... es liegt an uns selbst, den Weg hin zum Stil zu finden. Daran kann ich nichts Falsches entdecken; es ist gut so, daß wir größere Freiheiten bzgl. der Ausgestaltung unserer Werke gefunden haben. Doch gebe ich hier zu bedenken, daß doch allzu weitfassende Freiheiten wiederum die Orientierungslosigkeit steigern können - bis hin zu völlig pervertierten und in die Irre geleiteten Vorstellungen von Kultur. Alles muß schnell von der Hand gehen, es warten bereits die neusten "Aufträge", die in Angriff genommen werden müssen. Für zeitintensive Studien des menschlichen Lebens, der allumfassenden Natur und anderer Wunderselt-samkeiten (sic!) bleibt keine Zeit mehr: Hat denn die (eigene) Literatur überhaupt noch etwas mit der Vervollkommnung des Menschen zu tun? Ich kann mir denken, daß diese Frage immer wieder in die Diskussion zur Kultur eingeworfen wird. Sie rührt auch noch aus dem Zeitalter der Aufklärung nach, und sie pocht immer wieder in den Herzen der Menschen, die dem Kultur-Einerlei etwas entgegensetzen wollen. Graue Masse, aus der niemand mehr herausstechen kann. Beliebigkeit, die das Besondere, das Wunder(!)-Bahre nicht mehr fördert. Was wird heute den heiligen Worten (im Sinne von sakrosankten Worten, die sich jeder Barde hinters Ohr schreiben sollte, auf daß er stets den Ruf hört, dem er folgen kann):

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen,
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,
Wenn sich die Welt ins freie Leben,
Und in die Welt wird zurück begeben,
Wenn dann sich wieder Licht und Schatten
Zu echter Klarheit werden gatten,
Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die ew'gen Weltgeschichten,
Dann fliegt vor einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort."
(Novalis, 1772-1801),

... Kann neue Erkenntnis (auch für Dichtersleute) nicht auch in der Beschäftigung mit verschiedenen Perspektiven gewonnen werden? Natürlich kommt man nicht umhin sich - sofern man den professionellen Weg weiterhin beschreiten möchte - auch einige Umgangsformen in der Verlagswelt anzueignen. Aber ich denke trotzdem nicht im Traume daran, zu schweigen. Denn gerade dort entwickelt sich doch das kritische Potential, das praktisch alle Pragmatiker und Businessmen (schröckliches Wort, nicht wahr?) zum Schweigen verurteilt: sich Landschaften ausmalen in Gedanken, die schließlich in schöne Worte umgewandelt werden - ein Transformationsprozeß also, denkt ihr. Ja, so könnte man es nennen. Ihr seht: Dichtkunst hat viel mehr mit Natur zu tun, als der Name vermuten läßt. Warum aber verstummt heute diese Sicht auf die Welt? Möglicherweise hören selbst die Propheten - die Dichter also in unserer speziellen Sprache - nicht mehr auf das Treiben & Rumoren der Sprache. Ich führe nun wieder meine eigene Person ins Fegefeuer - nicht, um mich selbst im Wasser des Narzisses zu betrachten, sondern um mich selbst zu verstehen. Nur dann kann ich auch Poesie schaffen. Muß nach Arthur Rimbaud die Liebe neu erfunden werden, so sage ich, die Poesie muß stets vorangetrieben werden. Schaffen dies aber all die einzelnen (Sub-) Kulturfragmente (SF/ Fantasy/ Horror, Gothic/ Phantastik, Social-Beat, Avantgarde, Naturreligon/ Pagan etc.) oder muß doch ein Sturm durch alle fegen? Ich selbst füge mich natürlich auch meiner eigenen höchstpersönlichen Geschichte, die mich prägte, die mich zum jetzigen Lebensalter brachte:

Aus Dunkelheit gekrochen (im Jahre 1979 e.v.), wußte nichts von der Tunnelfahrt, bis sie geschah. Nun ist er ans Licht gekommen, doch welchem Spektrum, welcher Stufe dieses Licht angehörte, das er sollte erst noch in kommenden Jahren erkunden. Zunächst galt es, hellhörig und helläugig die ihn umgebende Welt in sich aufzunehmen, und so häuften sich die Erinnerungen und Erfahrungen, eine eigene Welt formierte sich in seinem Geiste, mit vollstem Gehalt verhandelte sie mit der hiesigen, Euch bekannten Sphäre des Materiellen. Das Schöpferische, welches ihm zugeeignet, wandte er an, in dem er in den umliegenden Wäldern Banden gründete, so zogen sie in jungen Jahren durch die weitläufigen Forste und auf die niedrigen Bergchen. Die Täler kannte er bald, "Die letzten Mohikaner" unternahmen weite Züge, verfaßten Geheimschriften und trafen sich an unbekannten Orten. Doch als die Zeiten des Abschieds kamen, da wandte er sich an seine Schwester. Gemeinsam forschten sie in den Sternen, den Reagenzien und den Drahtspulen, bis ein Chemielabor entstand, in dem Bestreben, Lichtgestalten zu erschaffen, die Natur in ihrem Wesen zu erforschen. Diese Lichtgestalten blieben ihm lange verbunden."

--- Nun erstand aus der Asche früherer Kindheitserfahrungen das "Geisteskrämpfe Dichtungslabor". Ich verweise hier kurz auf meine Selbstdarstellung im ORACULUM Nr. 4/01 (ISSN 1616-5020) auf S. 39: "... ein Sprachexperimentator, [...]. Sieht sich in der Tradition eines organischen Sprachgefühls, welches er im Rahmen einer psychisch potenzier- und realisierbaren Magie immer weiter an die Grenzen der Wahrnehmung treiben möchte (= Sprachchemie)."; erinnert diese Passage nicht an die Macht des Dichters (vgl. das Zitat oben aus dem GOLEM)? Ich gebe es unumschränkt zu: Ich selbst hafte meine dichterische Persönlichkeit stark an ein spirituelles Bild - bin ich deshalb in der heutigen, gefühlskalten Welt verloren? Nein - ich denke nicht, denn durch die Kraft der Worte zerschlägt man das Lispeln von Schlangen. Ich bin wohl im Feuer! Was fällt einem Autor des 21. Jahrhunderts ein, sich so unverhohlen einem höheren Ziel zu verschreiben! Und bitte achtet darauf: Ich habe meine Tastatur fest im Griff, wie anno dazumal auch die Feder nicht im feschen Luftzug der Mode knickte. Es machen sich Dichter stets Gedanken zu ihrer eigenen Tradition, zur Menschengattung und auch zum Leben in der Welt allgemein. All diese Vielfalt von optischen Geräten (mit denen man so einiges erspähen kann!) zu fassen, die Natur und ihren Puls zu erahnen und schließlich in sich selbst zu spüren, das führen auch selbst andere zeitgenössische Dichter (Christian Schönwetter in seinem Gedichtband Orpheus in der Gegenwelt / kritische Gedichte , München 2000)  an:
"Orpheus - eine Gestalt der Mythe, beinahe ein Gott, Sinnbild der Romantik vergangener Tage, beinahe vergessen heute. Er ist ein fragiler Mensch, rein an Körper und Seele, doch sein Lied verklingt ungehört & seine Schönheit bleibt unerkannt. So irrt er umher, ein Leidender in einer Welt der Gleichgültigen. Orpheus, der Sänger in einer ihm fremden, prosaischen Welt, in der das wahre Gefühl verlorengegangen ist, ein Mensch, der versucht der nackten Realität des Daseins durch Lyrik zu entfliehen, was aber immer nur als temporäre Illusion gelingt; & umso kälter erscheint die Welt nach dem Erwachen." (S. 30.)

Es liegt nun natürlich auch an dem Lyriker, diese Welt wieder einzufangen, in einem Klang mit der Natur. Warum aber dies den heutigen Literaten so suspekt erscheint? Nun ja, vielleicht haben sie ja den Kontakt verloren zum Freien Geist, der durch alle schweben kann. Einen in Enthusiasmus mitreißen und erneut zu neuen Schöpfungen führen kann... aus dem Alltagstrott hinein in eine Bewußtwerdung der tiefen Kräfte, die in uns schlummern. Doch was sind unsere eigenen Gedanken und was fabrizieren wir nur, um anderen Zeitschriftenherausgebern und möglichst vielen LeserInnen zu gefallen (nicht umsonst bedeutet im Englischen das Wort fabric auch "konstruierte Welt")?! Hecheln wir letzten Endes nur Gespenstern nach, in die wir unsere eigenen Träume legen... aus Bequemlichkeit, nicht kritisch werden zu müssen und akzeptierte Realitäten zu hinterfragen.

Meine Feder bewegt sich von Geisterhand getrieben,
will mir zeigen das Verblichene,
dessen Schatten nur noch die Stimme anstimmen können
von der kalten Frühe des Morgens.
Kann sich der Schreibende noch schmücken
mit den Blumen dieses verblassten Antlitzes?
So stehe ich hier wieder im Naturtreiben... und husche den Schatten nach.
Mit der leichtgekrümmten Feder.
(aus: "Die Schattenlyrik" von Bard Phantasmagorias Demoband 2-99)


[Da ich selbst die Antwort nicht finden kann, rufe ich die Geister von Einst... und ich werde sie nicht mehr los. Liegt darin die Natur des Dichtens? Aus dem Dunkel das Licht, aus dem Alltäglichen das Wunderbare. Oder geht doch alles seinen umgekehrten Weg - kann ich selbst etwas leisten? Werde ich das Prophetentum ablegen? Mir selbst gewiß. Mir schauerts über den Rücken. Inbrünstig wende ich mich um und...:


O Prophet ! said I, thing of evil ! prophet still, if bird or devil !
By that Heaven that bends above us by that God we both adore
Tell this soul with sorrow laden if, within the distant Aidenn,
It shall clasp a sainted maiden whom the angels name Lenore
Clasp a rare and radiant maiden whom the angels name Lenore.
Quoth the raven Nevermore.

‘Be that word our sign of parting, bird or fiend ! I shrieked, upstarting
‘Get thee back into the tempest and the Night's Plutonian shore !
Leave no black plume as a token of that lie thy soul hath spoken !
Leave my loneliness unbroken ! quit the bust above my door !
Take thy beak from out my heart, and take thy form from off my door !
Quoth the raven Nevermore.

And the Raven, never fitting, still is sitting, still is sitting
On the pallid bust of Pallas just above my chamber door;
And his eyes have all the seeming of a demon's that is dreaming,
And the lamp-light o'er him streaming throws his shadows on the floor;
And my soul from out of that shadow that lies floating on the floor
Shall be lifted - nevermore !"]
Auszug aus E.A. Poes Gedicht The Raven.

 

Dominik "Geistbarde" Irtenkauf

Kontakt: geistbarde@t-online.de
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